Verwaschen wie ein altes T-Shirt: Das Hans Arp Relief auf dem Forumsplatz der Technischen Universität Braunschweig
Scherenschnittartige, organische Formen schweben über dem Forumsplatz der Technischen Universität Braunschweig. Graue Schlieren ziehen sich über die Flächen, das Schwarz wirkt wie das eines ausgewaschenes Kleidungsstückes. Das wandfüllende Relief an der Westseite des Audimax zieht heute keine Blicke mehr auf sich. Die wenigsten der Studierenden, die morgens über den Campus eilen oder die Bibliothek besuchen, stellen sich die Frage nach seiner Herkunft oder kennen den Namen des Künstlers: Hans Arp. Längst ist das Relief ein vergessener Bestandteil des Campus geworden.
1960 sieht das anders aus. Braunschweig liegt seit dem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche. Die historische Altstadt ist ausgebrannt, nur zehn Prozent der Gebäude sind erhalten geblieben. Die Ruine des alten Braunschweiger Schlosses wird abgerissen, zu teuer sei die Rekonstruktion.
Aber es gibt auch Menschen, die die Zerstörung der Stadt als Neuanfang betrachten: Die Architekten der sogenannten „Braunschweiger Schule“ sehen darin eine Gelegenheit, die Stadt neu aufzubauen, anstatt sie zu rekonstruieren. Braunschweig soll ein Bild von Modernität werden. Verkehrsnetze werden ausgebaut, um Platz für das Fortbewegungsmittel des modernen Lebensstils zu machen: Das Automobil.
Prägend für die „Braunschweiger Schule“ ist Friedrich Wilhelm Kraemer, der vor dem Krieg in Braunschweig studierte und nun als Professor an der Technischen Hochschule Braunschweig lehrt. Kraemer ist verantwortlich für den Entwurf des neuen Forumsplatzes der Hochschule, zu dem auch Bibliothek und Auditorium Maximum gehören. Der Bau wird von 1959 bis 1970 realisiert, das Audimax wird 1960 fertig gestellt.
Kraemer nimmt sich die großen Architekten des Bauhauses als Vorbild: Klare Linien, geometrische Formen. Und kennt die Bauten von Walter Gropius, den er auf einer Forschungsreise in die USA 1955 persönlich kennenlernt. Vermutlich besichtigt Kraemer dort auch den Speisesaal des Harvard Graduale Center, wo abstrakte Formen die hölzernen Wände schmücken. Es handelt sich um ein Relief des Künstlers Hans Arp. Arp ist damals bereits international bekannt und wird dem Architekten ein Begriff gewesen sein, denn Kraemer hat ein Herz für die Kunst. Er organisiert kulturelle Soirées in seinem Haus und verlangt auch von seinen Mitarbeitern ein Interesse für Musik und Kunst. Später wird er Vorsitzender des Kunstvereins Braunschweig werden. Kraemer wünscht sich ebenfalls ein Relief Arps für die Wand seines Auditorium Maximums, jedoch benötigt es erst zahlreiche Gutachten und Stellungnahmen, bis er den Auftrag endgültig an den Künstler vergeben kann.
Hans Arp ist 1960 bereits 74 Jahre alt. Im Elsass geboren, wächst er dreisprachig auf. Als Dreißigjähriger ist er Teil der Züricher Gruppe der Dadaisten, schreibt Gedichte und fertigt erste Dada-Holzreliefs an. Er entdeckt die Technik der Collage für sich, bei der er Papierschnipsel dem Zufall nach auf Papier anordnet. In den 20ern schließt er sich der Gruppe der Surrealisten an. Außerdem verbindet ihn eine enge Freundschaft mit dem Expressionisten Max Ernst. Viele Standortwechsel und Reisen prägen sein unruhiges Leben, das vor allem durch die beiden Weltkriege zerrüttet wird. Arps Werk ist vielfältig, es beinhaltet neben Reliefs und Collagen auch Holzschnitte, Wandteppiche und zahlreiche Skulpturen.
In den Fünfzigern nimmt Arp mehrere Auftragsarbeiten an, mittlerweile beschäftigt er auch eigene Mitarbeiter. Neben dem Holzrelief im Harvard Graduale Center 1950 fertigt er 1956 ein Wandrelief für die Universität Caracas, 1958 eins für den neugestalteten Bau des UNESCO-Gebäudes in Paris. Dann, zwei Jahre später: Braunschweig. Die Kunsthistorikerin und Arp-Expertin Stefanie Poley hat verschiedene Vorskizzen des Braunschweiger Reliefs ausfindig gemacht, durch die der Arbeitsprozess Arps anschaulich wird. Die Vorskizzen sind seinen Collagen ähnlich: Zuerst schneidet Arp Formen aus Karton aus, die er dann auf einem Blatt arrangiert. Danach überträgt er die Formen mit Gouache-Farbe als Negativ in ein neues Bild. Sechs weiß gestrichene Aluminiumelemente werden schließlich an der Stirnseite des Audimax angebracht, die damals noch in Schwarz gehalten ist.
Am zweiten Dezember 1960 wird das Relief feierlich eingeweiht. Kraemer wagt es nicht einmal, in seiner Rede den Namen des Künstlers zu erwähnen, weil er mit Protesten von Studierendenseite rechnet. Der AStA-Vorsitzende äußert sich abfällig über das Relief und der zuständige Minister sendet eine deutliche Botschaft: Er erscheint gar nicht erst.
Moderne Kunst, noch dazu von einem ehemaligen, damals skandalös wirkenden Dada-Künstler, ist in den Sechzigern noch nicht im kulturellen Verständnis vieler Braunschweiger Bürger etabliert. Für Kraemer dagegen ist das Relief sehr wichtig. Es stellt den nötigen Gegenpol zur architektonischen Strenge des Forumsplatzes dar, aber mehr noch: Für ihn symbolisiert das Relief eine neue, euphorische Perspektive, den Glauben an eine bessere Zukunft.
Offiziell trägt das Braunschweiger Relief keinen Titel. Im Braunschweiger Raum wird es nach einem Zeitungsartikel von 1959 oft „Wolken“ oder „Wolkenzug auf nachtschwarzem Himmel“ genannt. „Wolkenblumen“ oder „Wolkenmuscheln“ lassen sich in den Reliefarbeiten Arps ab den 30er Jahren finden: Immer sind es zellenartige, organische Formen, die zu schweben scheinen, meist sind sie ein- oder zweifarbig gehalten – wie auch beim Braunschweiger Relief. Später wird das Audimax aus thermischen Gründen neu gestrichen, die Bedeutung des Reliefs kehrt sich um: Die Wolken werden zu „schwarzen Wolken“. Bei der letzten Renovierung des Audimax wird die Wiederherstellung der ursprünglichen Farbgebung intensiv diskutiert, doch dazu kommt es nicht.
Dieser Artikel erschien in ähnlicher Form im Wintersemester 2013 in der 14. Ausgabe des Hochschulmagazins studi38.
Wer sehen möchte, wie das Relief des Braunschweiger Audimax früher mal aussah, kann das hier tun.
Danke an den Cloud Club Braunschweig und an die Kunsthistorikerin Stefanie Poley für die Bereitstellung des Transkripts eines Vortrages über das Hans Arp Relief (Dezember 2006, TU Braunschweig).