Lebenswege

Eins der interessantesten Dinge (wirklich!) daran, einen Freiwilligendienst zu absolvieren, ist, dass man wieder so viel mit jungen Menschen zu tun hat, die gerade erst die Schule beendet haben. Es ist so eine aufregende Zeit! Alles ist neu: Rezepte in der eigenen Küche ausprobieren, Mitbewohner haben, die nicht mit einem verwandt sind, Kommen und Gehen können, wie und wann man will, und schließlich der ganze (und in Frankreich noch tausendmal mehr nervige) Papierkram, den man nun selber erledigen muss …
Es ist aber auch eine Zeit, in der man ein bisschen an dem Menschen feilt, zu dem man werden möchte, mit allen Selbstzweifeln, Fragestellungen und Tiefen, die dazugehören. Viele meiner Mitfreiwilligen sehen noch rat- und planlos in die Zukunft und sehen die Zeit hier als wirkliches Selbstfindungsjahr, während andere schon ziemlich konkrete Vorstellungen haben, die meist überhaupt nichts mit dem Kulturbetrieb zu tun haben.
Während wir auf unserem ersten deutsch-französischen Einführungsseminar feststellten, dass die meisten der französischen Freiwilligen bereits irgendetwas studiert hatten, sah das bei den deutschen Freiwilligen komplett anders aus – ein Orientierungsjahr nach dem Abitur ist für viele junge Deutsche etwas ganz Normales.

gewagt
gewagt – Die Zukunftsbroschüre vom Projekt Lebenswege.

In meinen letzten Wochen in Braunschweig landete ein recht ramponiertes Päckchen in meinem Briefkasten. gewagt, ein Heft, mit Geschichten über Menschen, die ihren Lebensweg ziemlich unbeirrt gegangen sind, sich haben ablenken lassen, sich erstmal treiben ließen. Entdeckt hatte ich das Ganze über Crowdfunding: Es ist komisch und schön, seinen eigenen Namen im Impressum lesen können, nur weil man eine Idee mitfinanziert hat, die einen begeistert hat.

Die jungen Freiwilligen zu beobachten ist auch deswegen spannend, weil sie sich in diesem einen Jahr jeden Tag ein wenig mehr finden. Weil sie zum ersten Mal eigene Projekte organisieren (wie beispielsweise unsere Tage der deutsch-französischen Freundschaft), zum ersten Mal richtig arbeiten gehen und jeden Tag ein Stückchen an sich selber wachsen. Genau aus diesem Grund habe ich alle meine Mitfreiwilligen im deutsch-franzöischen Freiwilligendienst der Kultur interviewt und in ihren jeweiligen Einsatzstellen besucht. Die Berichte werden nun Stück für Stück hier im Blog unseres Trägers, des Kulturbüros Rheinland-Pfalz, veröffentlicht.

Die Lebensgeschichten aus der wunderbaren Zukunftsbroschüre „gewagt“ kann man übrigens auch online lesen – auch wenn ich die Papierversion lieber mag, in der man noch vorm Schlafengehen stöbern kann. Meinen Freiwilligen habe ich übrigens zu Weihnachten jedem eins in die Hand gedrückt – und ich bin jetzt schon so gespannt, wo ihre eigenen Wege hinlaufen mögen.

Heimweh stopfen

alltagssocken
Alltagssocken.

Ich mag es nicht, dass die Bloggerwelt oft alles Eckige, Raue glättet, aufhübscht und die Kanten verwischt, dass meist nur vom Schönen, dem Besonderen, dem Moment und dem Lächeln gesprochen wird; aber trotzdem mache ich es doch meist genauso. Kein Platz im Netz für traurige Gedanken oder die dunklen Momente.

Nach Weihnachten hatte ich so einen dunklen Moment. Als ich um 6 Uhr morgens aus dem Fernbus stieg, lag tiefster Nebel über den Straßen. In den nächsten Tagen war die Stadt unter einer grauen Wolkendecke verschwunden, Regen gehört zu dieser Stadt wie der tägliche Gang zur boulangerie und obwohl ich mich mittlerweile an beides gewöhnt habe, werde ich ersteren doch nie mögen können. Trotz Thermo-Unterwäsche im Koffer und warmen (und bequemen!) Winterstiefeln an meinen Füßen, die mich durch die langen Abende an der Empfangstheke des Kunstvereins bringen sollten, hätte ich meinen Aufenthalt in der Heimat am liebsten noch um das Doppelte verlängert. Weil ich mich so nach etwas Warmen, Weichem sehnte, das mein Heimweh stopfen könnte, schwänzte ich kurzerhand meinen Sprachkurs, packte meine Stricknadeln ein und verschwand ins Caf&Co (das wohl sympathische Café in Dijon und längst ein deutscher Treffpunkt), um dort abends um sechs in einer Runde talentierter, französischer Damen Maschen à l’envers und à l’endroit zu stricken, Wollknäuel und fertige Projekte zu bewundern, heiße Fairtrade-Schokolade zu trinken und meine Seele zu balsamieren. Weiterlesen

Mein geheimer Wunschzettel

Eigentlich mag ich in diesem Jahr nichts mehr geschenkt bekommen, hat sich doch schon so viel (Nicht-Materielles) erfüllt und die größte Frage bleibt ja eh immer: »Wie transportiere ich das jetzt nach Deutschland?«, beziehungsweise »Nehme ich das wirklich wieder mit nach Frankreich?«.
Seit Christoph jedoch seine geheime Wunschliste veröffentlicht hat, fällt mir auch immer mehr auf, wie seltsam meine – im Mobiltelefon, auf kleinen Zettelchen und im Internet – gesammelten Wünsche für Außenstehende wirken müssen. Demnach sehe ich nämlich wohl wie ein kleiner Alm-Öhi aus, der es sich demnächst in einer Hütte in den Alpen bequem macht.

  • ein Paar bequeme Schuhe
  • eine Trinkflasche aus Edelstahl
  • Thermounterwäsche
  • eine Thermoskanne
  • eine Regenjacke
  • ein Wasserpinsel (so ein praktisches Ding, wo das Wasser sich gleich im Pinsel befindet)
  • ein USB-Stick
  • Stickrahmen in verschiedenen Größen

Fahrradfahren, nachts

Mein Kollege wohnt am anderen Ende der Stadt. Während ich ihn um den tollen Ausblick auf den einzigen Badesee der Stadt beneide, beneidet er mich um den 10-Minuten-Fußweg zur Arbeitsstätte. Ich kenne diesen Neid sehr gut; habe ich doch selbst sehr oft am (vermeintlich falschen) Ende der Stadt gewohnt; manchmal sogar über das Ende hinaus (in diesem Zwischenland, was sich Vorort schimpft).
Das Einzige, was ich an diesem Zustand des Dort-wohnen-wo-andere-nie-hinkommen immer sehr genoß, war die Tatsache, dass ich, nachts zu später Stunde, alles tun konnte, was meinem Charakter überhaupt nicht entspricht: Mit dem Fahrrad auf der Mitte einer autoleeren Straße zu fahren und dabei lustig jede rote Ampel mitzunehmen. Und das Beste: Dabei laute Musik durch kleine Kopfhörer zu hören. Vielleicht gehört nachts musikhörend Fahrrad zu fahren sogar zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Für alle, die sich der Gefahr ebenfalls aussetzen wollen, gibt es hier meine Playlist dazu (hier auch auf Spotify, versteht sich). Nachmachen auf eigene Gefahr.

Über Neuanfänge

dijon

Mein Verhältnis zur französischen Sprache gleicht dem einer unerfüllten Liebe. Mit 12 Jahren für den Nebenbuhler Latein entschieden, mit 14 gemerkt, dass lebendige Sprachen eher so mein Ding sind und dann, nach zwei Jahren läpprigem Schulfranzösisch, mit 20 vergeblich versucht, Uni-Stundenplan mit Französisch-Sprachkurs zu vereinbaren (… ahnt ihr was? Klappte natürlich nicht). Trotzdem immer wieder aufs Neue verknallt, wenn ich meine französische Mitbewohnerin am Telefon plappern hörte oder im Museum auf Menschengruppen stieß, die sich angeregt in der nasalen Sprache unterhielten.
„Was machst du nach dem Bachelor?“, fragten mich immer wieder Freunde. Und wenn ich dann in mich reinhörte, hatte ich tief drinnen einen großen Wunsch – auf meine alten Tage noch einmal irgendwie meine Frankophilie ausleben. Drei Intensivkurse und ein Haufen Bewerbungen später bin ich nun in Dijon gelandet, arbeite in einem Museum und versuche, hier – in der Hauptstadt des Burgunds und des guten Weines – Antworten auf Fragen zu finden, die mich schon jahrelang beschäftigen: Ziehen sich die Franzosen wirklich besser an? (Vorläufige Antwort: Nein.) Sind wirklich so viele von ihnen Cineasten? (Vorläufige Antwort: Ja.) Sind sie wirklich so höflich, wie man das in Deutschland behauptet? (Vorläufige Antwort: Nein.) Legen sie wirklich so viel Wert auf gutes Essen? (Oh ja.) Ist das kulturelle Leben wirklich anregender als in Deutschland? (Mais oui!) Weiterlesen

Herbst

herbst

Jahrelang hatte ich meine Flucht vorbereitet. Hatte mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn ich diese Stadt nach langen Studienjahren endlich verlassen könnte. Noch zwei Jahre, noch eins, dann … Hatte genug von den Partygesprächen in meiner Heimatstadt, von der zweithäufigsten Frage im Small-Talk: „Wo kommst du denn her?“ und vom darauffolgenden „Nicht weit gekommen, hm?“ (Dieses Prozedere hatte ich bald so viel über, dass ich mich daraufhin in einer Kolumne auf der letzten Seite meiner Uni-Zeitung verteidigte.)

Entgegen allen Erwartungen fühlte ich mich am Abend meiner Bachelorentlassung nicht gelöst. Es war eine Prozedur gewesen, wie ich sie seit dem ersten Semester hatte beobachten können, nur, dass ich diesmal selbst ein aktiver Teil davon war: Eine Ausstellungseröffnung. Eine Eröffnungsrede. Ein Abschiedsgeschenk. Ein paar ermunternde Worte. Ein Foto. Applaus. Ich hatte mir im Vorfeld nicht einmal Gedanken darüber gedacht, wie ich auf ebendiesem Foto aussehen würde, und so sah ich aus, wie ich die ganze Woche lang ausgesehen hatte: Mit Sandalen an den Füßen und Ringen unter den Augen. Später merkte ich, wie sich das Wasser in meinen Augen sammelte.

Noch vor ein paar Tagen hatte ich mich geärgert, dass der Sommer sich heimlich verabschiedet, das Freibad die Saison vorzeitig beendet hatte und die Blätter gelb wurden. Es gab Monate, da fühlte mich so übersättigt von dieser Umgebung, die mich schon so lange umgab. Jetzt war Braunschweig auf einmal der schönste Ort auf Erden und nie hatte sich Fahrradfahren im Herbst so gut angefühlt. Es gab Zeiten, da konnte ich die Veränderung nicht abwarten. Jetzt hätte ich alles gegeben für ein bisschen mehr Zeit in dieser, meiner Stadt; Zeit für mich und Zeit mit den Leuten, die mir über Jahre wichtig geworden waren; ärgerte mich, weil ich die Flucht bereits genauestens geplant hatte, vor Angst, vor dem Stillstand und der Ruhe, die mich normalerweise nach meinem Bachelor erwartet hätte und die Eva so gut hier beschreibt.
Stattdessen ein Abschied, der den Begriff fluchtartig verdient hatte (… war es nicht etwa das gewesen, was ich so lange gewollt hatte?). Und so saß ich plötzlich verdattert in einem leeren, ausgeräumten Zimmer und zwei Tage später dann in einem leeren ICE-Abteil. Über Trier nach Dijon.

Es gibt ein Mittel gegen die Einsamkeit, die einen plötzlich in einer fremden Stadt überfällt: etwas kaufen: eine Ansichtskarte, einen Kaugummi nur, einen Bleistift oder Zigaretten: etwas in die Hand bekommen, teilnehmen am Leben dieser Stadt, indem man etwas kauft (…)
– Heinrich Böll: Irisches Tagebuch

Da wo ich bin

Irgendwann im Dezember letzten Jahres bin ich – der regelmäßige Leser dieser Webseite kennt es nicht anders – mal wieder online untergetaucht. Jedesmal verspreche ich Besserung, jedesmal kommt mir etwas (das Leben oder einfach nur der Bachelor) dazwischen. Im letzten halben Jahr war ich vor allem damit beschäftigt, sehr beschäftigt oder sehr glücklich zu sein.
Ganz speziell: In Zügen herumzufahren, zu zeichnen, zu drucken, Geschichten, Konzepte und Bewerbungen zu verfassen, um anschließend total fertig auf den Sofas oder Betten meiner Freunde herumzulungern, wo ich gefährliches Halbwissen an alle Interessierten verbreitete.


Unruhige Kameraführung und untote Alltagsprobleme: Unser Festivalbeitrag für durchgedreht24

Der absolute Höhepunkt dieses vollgestopften, aber wohl geplanten und stringenten Arbeitsprozesses war wohl mein 24. Geburtstag, an dem ich mein liebstes Festival – durchgedreht24 – mit meiner anstregenden Präsenz und Teilnahme beehrte. Weiterlesen